Im Juni letzten Jahres traf ich auf Volker Gerling und war sofort fasziniert von ihm und seiner Arbeit. Denn ich kannte die Fotografie und das Kino und wusste was ein Daumenkino ist, aber diese spezielle Form - die Daumenkinographie - war mir bis dahin noch nicht begegnet...
Diese Aufnahme ist das letzte Bild des Daumenkinos und ließ mich nicht mehr los. So bat ich Volker um einen Abzug und blickte diesen Schriftsteller in den letzten Monaten immer wieder tief in die Augen und es entstand das folgende kurze Essay...
Aber die Photosie wäre ja nichts ohne ein Gedicht. Also zurück zu dem "Mädchen mit langen und mit kurzen Haaren". Es ist eine sehr schöne Geschichte (siehe Link), die Volker wunderbar filmisch umgesetzt hat und mich in den Wochen danach zum folgenenden Gedicht inspiert hat. Das Foto zeigt den Deckel der Schachtel, in welcher das Daumenkino aufbewahrt wird...
Volker Gerling während der Filmvorführung |
Wir kamen rasch ins Gespräch und ich erhielt vor Ort und ein paar Tage später die Möglichkeit viele seine Arbeiten zu sehen. Sie waren durchweg alle wunderbar, doch zwei von Ihnen hatten es mir besonders angetan. Zum einen war da, der Film über ein "Mädchen mit langen und mit kurzen Haaren" (siehe Flaum) und zum anderen die Aufnahme eines kanadischen Schriftstellers beim Spaziergang durch Vancouver...
Michael Turner, aufgenommen von Volker Gerling, 2011 |
Diese Aufnahme ist das letzte Bild des Daumenkinos und ließ mich nicht mehr los. So bat ich Volker um einen Abzug und blickte diesen Schriftsteller in den letzten Monaten immer wieder tief in die Augen und es entstand das folgende kurze Essay...
einBlick
Oft habe ich dieses Bild betrachtet und mich von
den Augen Michael Turners fangen lassen. Aber warum ist diese scheinbar
alltägliche Aufnahme des kanadischen Schriftstellers für mich so besonders?
Vielleicht weil das kein unschuldiger Blick ist, der in seinem Gesicht ruht.
Hier durchdringt mich ein gewaltiger Ausdruck, der mir wohlbekannt ist und doch
immer wieder Erstaunen in mir hervorruft. Es liegt eine Seelentiefe in den
Augen dieses Schriftstellers, die mich nicht einfach nur ergreift, sondern mich
von Grund auf erfasst. In diesem einen Moment bricht seine innere Welt nach
außen und bietet einen tiefen Einblick in seine Seelenwelt. Bei dem Ausdruck in
seinem Gesicht handelt es sich um den besonderen Blick des Schriftstellers und
eröffnet uns die Welt der Literatur.
Dass die Sprache, die wir über die Muttermilch
einst aufgenommen haben, sich irgendwann einmal zu einem autistischen
Gedankensumpf auswächst, der nur wenn er auf Papier gebannt ist, uns nicht
verschluckt, ist ein Rätsel, das jeden Leser beschäftigt. Eine gängige Frage an
die schreibende Zunft ist, warum man dies oder jenes denn nun so und nicht
anders aufgeschrieben hat. Man kann darauf vielschichtig antworten, aber mit
der so simplen wie knappen Aussage, dass man im Grunde nicht anders könne als
auf diese Art und Weise, bleibt der jeweilige Gesprächspartner meist ratlos
zurück. Warum ist der Schriftsteller nun schlussendlich ein Schriftsteller und
wie ist er einer geworden? Hemingway hat
einmal gesagt, dass er immer habe Schriftsteller werden wollen. Und auch mich
hat die Sprache schon in jungen Jahren fasziniert und ich konnte es kaum
erwarten die Schrift endlich zu erlernen. Immer wenn ich Buchstaben sah, und
war es nur ein Werbeschild oder der Name eines Geschäftes, wollte ich deren
Bedeutung erfahren. Stets war da dieser innere Antrieb und vielleicht darf man tatsächlich
von einer Form der Berufung sprechen. Natürlich muss man wie in jedem anderen
Handwerk die Technik erlernen und sich gewisse Kniffe und Geheimnisse erlesen. Aber
zuallererst steht der Wille zum eigenen Ausdruck und der andauernden Formung
der Sprache. Und überhaupt sind doch alle Schriftsteller und Dichter in erster
Linie Leser. Sie tauchen ein in den undendlich Kosmos der Texte und Bücher. Man
kann dies durchaus als langwierigen Prozess bezeichnen oder auch als eine lange
ereignisreiche Reise. Eine Reise, auf die sich im Grunde jeder Leser begeben
kann. Und dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem reinen
Leser und dem lesenden Schreiber. Denn der Schriftsteller hat irgendwann den
Schritt gewagt aus den Worten die er aufnimmt seine eigene Sprache zu formen
und Erlebnisse nicht nur zu „erzählen“ sondern sie als Geschichte niederzuschreiben.
Dabei ist der Autor natürlich stets beeinflusst und inspiriert von der von ihm
aufgenommen Sprache und bildet eine abstrakte Abart von ihr. Man kann bei
vielen Schriftstellern durch das intensive Studium ihrer Texte ihre jeweiligen Lesevorlieben
erkennen und durchaus Rückschlüsse zu ihren Inspirationsquellen ziehen. Aber
wie kommt es nun konkret zum Übergang vom Lesenden zum Schreibenden? Dies ist
natürlich stets eine individuelle Geschichte, jedoch kann man durchaus gewisse
Grundsätze feststellen. Denn oft handelt es sich um eine frühe Prägung im
Kindesalter, quasi um einen Schlüsselmoment. Der Auslöser ist vielleicht ein ungewöhnliches
Erlebnis, ein prägnanter Satz oder ein zufällig aufgeschnappter
Gesprächsfetzen, oder ein etwas ganz und gar skurriles Ereignis oder verwirrendes
Geschehen. Der Schriftsteller als Kind und das Kind im Schriftsteller
unterscheiden sich dabei nicht in der besonderen Wahrnehmung dieser Erlebnisse.
Beide haben sie ihre Sinne geschärft und sind in der Lage aus dem scheinbar
Unbedeutenden einen tieferen Sinn zu erfassen, die Zusammenhänge zu erkennen
und abstrakt weiterzudenken. Dies heißt nicht, dass der Schriftsteller
besonders klug oder weise ist. Er ist lediglich sensibler in seiner Wahrnehmung
und seinem Empfinden und besitzt die Empathie, um sich in die Köpfe seiner
Mitmenschen zu denken und hat dabei das Gespür für das ungewöhnlich
Gewöhnliche.
Denken wir uns als Beispiel ein Kind, das der
Tötung eines Huhns beiwohnt und den Moment erlebt, wenn das Tier geköpft wird
und stirbt. Das Kind spürt vielleicht nicht nur eine gewisse Faszination für
die Macht der Gewalt, sondern realisiert den Tod des Huhns als tatsächlichen
Sterbemoment und fühlt die Vergänglichkeit aller Dinge und sucht in den
nächsten Stunden innerlich nach den Worten, um diese Gefühle in Beziehung zu
dem Ereignis zu setzen und zu beschreiben.
Nun wird das Kind jedoch in den seltensten Fällen
sofort zum Stift greifen und beginnen darüber schreiben. Vielmehr beginnt eine
Art innerer Kampf, denn wenn ein Kind so ein ungewohntes Ereignis zum ersten
Mal im Leben bewusst erfährt, löst dieser Moment des Begreifens eine Form der Ohnmacht
aus. Ein Gefühl etwas verstanden zu haben und innerlich tief zu empfinden und den
Drang dies beschreiben zu wollen. Aber da ist diese riesige Hürde, um die so
eben erfahrene innere Welt auf Papier zu bringen, weil da stets ein Zweifel wacht,
ob dieser sehr spezielle innere Film auch für die Außenwelt verständlich sein
wird. Im Geist des Kindes herrscht eine obskure Mischung aus Zwang und Furcht.
Aber es hilft kein Verdrängen oder der Versuch von ständiger Ablenkung, denn
das was einst durch diese Augen ging muss wieder hinaus in die Welt. Und
vielleicht wird dieses Erlebnis erst viele Jahre später von dem einstigen Kind
aufgeschrieben; vielleicht aber auch niemals. Denn, wenn der Impuls zum
Schreiben nicht ausreichend ist, dann verbleiben die Geschichten in den Köpfen
und finden niemals ihren Weg auf das Papier. Aber manchmal braucht man für
Geschichten noch nicht einmal Worte. Da reicht schon der kühne Blick eines
Mannes aus Vancouver…
Aber die Photosie wäre ja nichts ohne ein Gedicht. Also zurück zu dem "Mädchen mit langen und mit kurzen Haaren". Es ist eine sehr schöne Geschichte (siehe Link), die Volker wunderbar filmisch umgesetzt hat und mich in den Wochen danach zum folgenenden Gedicht inspiert hat. Das Foto zeigt den Deckel der Schachtel, in welcher das Daumenkino aufbewahrt wird...
Mädchen mit langen und mit kurzen Haaren, von Volker Gerling, Jena, 2003 |
Sascha Röhricht
Flaum
die langen Haare
deiner Kindheit fallen
wie auch die Jahre
zu Boden
Metamorphose
im Spiegelbild
siehst du ein neues
ein unbekanntes Gesicht
das bist du
noch immer ein Mädchen
doch beinahe eine Frau
und als Erinnerung
bleibt dieser
dünne Flaum im Nacken
der darauf wartet
geküsst zu werden
Juli 2011
weiterere Infos zu Volker Gerling und seinen Daumenkino unter:
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